„Darf ich Kindern Grenzen setzen?“ und „Wie artikuliere ich meine eigenen Grenzen?“
Der Begriff „Grenze“ ist auffällig negativ besetzt. Er wird mit Strafe, Züchtigung, Ermahnung, Verbot, Moralpredigt, Versagung und einem ständigen „Nein“ verbunden. Dahinter verbirgt sich zugleich ein hohes Maß an pädagogischer Handlungsunsicherheit, fehlendes Selbstwertgefühl, nicht vorhandenes Vertrauen in eigene Fähigkeiten aber zugleich auch der Wunsch nach allgemeingültigen Normen und Werten, nach praktischen Rezepten.
Kinder brauchen in erster Linie verlässliche Beziehungen zu anderen Menschen, die Erfahrung stabiler Bindungen, Menschen, die um sie herum sind, sie tragen, schützen, sie gern haben, lieben und ihnen Gelegenheit und Raum zur Entfaltung ihrer individuellen Möglichkeiten geben.
Das Heranwachsen in einer Atmosphäre von Geborgenheit und Akzeptanz gibt ihnen Halt und Sicherheit.
Verlässliche Strukturen, an denen sie sich orientieren können, sind für Kinder genauso wichtig. Ein rhythmischer Lebensalltag, sinnvolle, nachvollziehbare Regeln, die das gemeinsame Miteinander gestalten. Kinder brauchen diese Grenzen, die sie erfahren, testen und sicherlich auch einmal überschreiten können, die aber dem Leben in einer Familie und einer sozialen Gemeinschaft wie der Kindergartengruppe, einen Rahmen geben.
Mit der gesellschaftlichen Veränderung hat sich in den letzten Jahren auch der Blick auf das Kind verändert. Viele Eltern sind verunsichert und es fällt ihnen schwer sich in Erziehungsfragen zu orientieren.
Gab es jemals zuvor so viele pädagogische Ratgeber in den Regalen der Buchhandlungen? Nach dem Umbruch der Erziehung in den 1970er Jahren, dem starken Auflockern von Grenzen, Ge- und Verboten ist eine Verunsicherung erlebbar, die Elternratgeber und Erziehungsratgeber in großer Anzahl hervorgebracht hat.
Manche Eltern geben ihre Kinder in der Kita mit der Erwartung ab, dass diesen dort ganz schnell das Richtige beigebracht wird, was sie dann selbst nicht mehr bewerkstelligen müssen.
Andere Eltern holen ihre Kinder immer mehr „auf Augenhöhe“ ab. Die Kinder werden als Mitbestimmer in Fragen des Haushalts, der Freizeitgestaltung, der Urlaubswünsche und des Konsums der Familie betrachtet, vornehmlich um das Kind in Alltagsfragen einzubeziehen und elterliches Demokratieverständnis zu leben. Dem Kind wird dadurch eine Rolle zugewiesen, die ihm nicht unbedingt entspricht und die es überfordern kann.
Eltern dürfen für sich überprüfen, ob das nicht eher ihren eigenen Bedürfnissen entspricht, anstatt den Bedürfnissen ihrer Kinder.
Sie wollen das Beste für ihr Kind und handeln vielleicht aus einer Angst heraus, die sich in den letzten Jahrzehnten extrem verstärkt hat: Der Angst, dass ihr Kind den Anschluss an die globalisierte Bildungsgesellschaft verlieren könnte.
In einer Gesellschaft voller Zeitdruck und Reizüberflutung wird es eine zunehmend wichtige Aufgabe Kindern die Freiräume zu schaffen, in denen sie sich in ihrem eigenen Tempo entfalten können.
Wie schnell wird ein Kind zum Objekt unser elterlichen Bemühungen, anstatt unter liebevoller Begleitung losgelassen zu werden.
Loslassen bedeutet nicht, dass wir keine Liebe und Fürsorge für unsere Kinder mehr haben.
Wir können unsere Kinder lieben, lehren, beschützen und versorgen. Sie brauchen unsere Unterstützung. Unsere Kontrolle brauchen sie nicht. Vater oder Mutter sein ist ein lebenslanger Lernprozess indem wir immer wieder neue Formen des Loslassens kennen lernen. Wir müssen die Balance zwischen Hilfe und Einmischung stets neu spüren.
Im Grunde ist es so, als würden wir ihnen das Radfahren beibringen. Wir halten sie im Gleichgewicht. Lassen wir zu früh los, fallen sie hin. Doch wenn wir zu fest halten, lernen sie nicht sich frei zu bewegen.
Indem wir Kinder belehren und bewerten, ein bestimmtes Verhalten von ihnen erwarten und sie so zu formen versuchen, dass sie uns gefallen, engen wir sie in ihrer Vorstellungskraft und in ihrer Entwicklung ein.
Anstatt ihnen den weiten und offenen Blick auf die Welt zu gewähren, der ihnen angeboren ist, schränken wir ihre Sichtweise bereits im Kleinkindalter ein und nehmen ihnen damit die Möglichkeit, viele Aspekte unserer Welt und auch ihrer eigenen Persönlichkeit überhaupt erst kennenzulernen.
Aus der Gehirnforschung weiß man, dass völlig absichtsloses Spielen für die besten Vernetzungen im Gehirn sorgt.
Wenn wir den Kindern unentwegt sagen, was sie tun sollen, wie sie spielen sollen und was sie wissen sollen, rauben wir ihnen den wichtigsten Aspekt ihrer Kindheit.
Wir machen sie von einem Subjekt zu einem Objekt unserer eigenen Absichten. Ihnen bleibt dann kaum eine Wahl, als sich mit unseren Vorgaben zu Identifizieren, anstatt ihre eigene Identität zu entfalten.
Kinder müssen nicht „funktionieren“, Kinder müssen sich entwickeln können. Das ist ein weites Übungsfeld für Eltern und Erzieher. Es ist wichtiger, das individuelle Können, die sozialen Fertigkeiten und Fähigkeiten eines jeden Kindes wahrzunehmen, zu fördern und zu begleiten als den reibungslosen Ablauf des Alltags sicherzustellen.
„Spielen ist für Kinder Lernen, allerdings ohne Reglementierung und Bestimmung der Inhalte durch Erwachsene. Spielen ist Ideen entwickeln, etwas ausprobieren, verwerfen, neu beginnen. Spielen ist Lösungen finden, andere Perspektiven einnehmen, Erfahrungen sammeln, Rollen und Regeln aushandeln. Spielen ist, und das schon ab dem Säuglingsalter, eine Möglichkeit, die Welt kennenzulernen.“ 1
Kinder, die nicht gelernt haben, wie man mit Frustration umgeht, oder wie man einen Konflikt selbstständig löst, haben es als Erwachsene schwer.
Nehmen wir den Kindern ihren subjektiven Entwicklungsweg, verletzten wir zugleich ihre Würde. Das geschieht immer dann, wenn man einen anderen Menschen zum Objekt, der eigenen Vorstellungen, Absichten und Bewertungen macht und entsprechende Maßnahmen oder Anordnungen vorgibt.
1 „Das Kita Handbuch“ Hrsg. von Martin R. Textor & Antje Bostelmann
Buchempfehlung zum Thema: „Rettet das Spiel! Weil Leben mehr als funktionieren ist.“
Gerald Hüther & Christoph Quarch, Hanser 2016