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Auch in unseren Kitas spiegeln sich die Krisen, die Kriege und das, was für Menschen daraus folgt wieder.
In all dem Erschütternden gibt es wiederum auch tief berührende Momente von Menschlichkeit und Nähe.
In einem unserer Kindergärten betreuen wir seit etwa 5 Monaten ein kurdisches Kind. Die Eltern flüchteten erst vor Kurzem nach Deutschland.
Kurdistan auf einer Karte zu zeigen gelingt wohl wenigen. Es ist kein souveräner Staat, aber für die Kurden, einer ethnischen Gruppe, zu der schätzungsweise zwischen 30 und 35 Millionen Menschen angehören, ist er ein ferner Traum von Selbstbestimmung. Ihr Siedlungsgebiet, welches sich größtenteils über den Osten der Türkei sowie die Randbereiche des Iran, Irak und Syrien erstreckt, zählt zu den unbeständigsten Regionen der Welt.
Die Kurden sind die größte staatenlose ethnische Gruppierung weltweit. Über den genauen Ursprung der Ethnie sind sich Kurden aber auch Gelehrte uneins. Klar ist, die Kurden haben eine gemeinsame Identität und Sprache.
Kurdisch gehört weltweit zu den wenigen Sprache, deren Anwendung eine Straftat war. Bis 1991 waren sogar kurdische Namen in der Türkei verboten.
Das Verbotsgesetz wurde zwar aufgehoben, in der Praxis jedoch wurde diese Sprache weiter diskriminiert.
Im Januar 2009 gründete der staatliche türkische Sender einen Fernsehkanal, der 24 Stunden in Kurdisch sendet – allerdings mit der Einschränkung, dass Programme für Kinder nicht ausgestrahlt werden dürfen.
Seit 2015 werden nun auch keine Arbeitsstellen mehr für Lehrerinnen und Lehrer zur Verfügung gestellt, die die kurdische Sprache lehren könnten.
So bekommen kurdische Kinder keine Möglichkeit mehr, in der eigenen Muttersprache ein einziges Wort zu schreiben.
Als der kleine Junge in unserer Kita aufgenommen wurde, war er vollkommen in sich zurückgezogen. Er verbrachte die Tage allein, er war scheu und hatte Angst. Das allein machte es schon schwer mit dem Kind in Kontakt zu kommen. Es war eine Situation, die das Herz berührte.
Die einzige Sprache, die er verstehen konnte, war seine kurdische Muttersprache.
Was mochte in diesem kleinen Menschen vorgehen? Wie erlebte er den Weg in ein fremdes Land und nun seine ersten Stunden in einer völlig fremden Umgebung, unter Menschen, die in einer fremden Sprache miteinander sprechen?
In dieser Kita arbeitet eine Erzieherin, die in ihrem ersten Beruf Rechtsanwältin war. Sie ist Iranerin und musste ihr Land ebenfalls verlassen. Derzeit lässt sie sich zur staatlich anerkannten Erzieherin in Berlin ausbilden.
Sie versuchte mit dem Jungen in Verbindung zu kommen, setzte sich neben ihn. Was niemand von uns wusste, sie spricht kurdisch! Dass eine Iranerin kurdisch spricht ist keine Selbstverständlichkeit.
Sie war einfühlsam und vollkommen präsent, sprach mit dem Jungen in seiner Muttersprache und begleitete ihn, Tag für Tag.
Das Sprechen der Muttersprache ist in Deutschland ein Recht für jedes Kind, damit seine Identität geschützt wird.
In diesem Fall konnten wir erleben, was das in der Realität bedeutet. Wie das überraschende Geschenk sich in der Muttersprache ausdrücken zu können der schwierigen Lebenswirklichkeit des kleinen Menschen einen sanften und tiefen Halt zu geben vermochte.
In dieser Zeit beschwerte sich ein Vater, dass die Erzieherin mit dem Kind kurdisch sprach. Er meinte sie müsste deutsch mit ihm sprechen.
Ich weiß nicht ob dieser Vater die besondere Lebenssituation des Jungen und dessen emotionale Verfassung kannte oder spüren konnte.
Nach einem Monat Eingewöhnungszeit fühlt sich das Kind sichtbar wohler. Der Junge beobachtet die anderen Kinder sehr genau und kommt sichtbar gern in die Kita. Vor wenigen Tagen begann er von sich aus deutsch zu sprechen.
Um mehr über unsere Arbeit und Ansätze im Bereich der mehrsprachigen Erziehung zu erfahren, lesen Sie folgenden Beitrag: Die bilinguale Sprachwelt der Kinder